Ich fand den Ausflug ins Stadtarchiv sehr aufschlussreich. Mir gelang es für einen längeren Zeitraum völlig, gedanklich in die frühere Zeit abzudriften und die aktuelle Situation komplett auszublenden. Ich las und fühlte mit- mit den Menschen, die so viel Leid und Elend erleben mussten- deren Leben von Verzweiflung und Tod geprägt war. Ich hatte einen Ordner voller Zeitungen von 1945. Beschäftigt hat mich dabei vieles. Besonders gefesselt und bewegt haben mich dabei die Berichte über das Leben in den Konzentrationslagern. Hier berichtete ein junges Mädchen von der Ausmusterung und den Bedingungen in den Konzentrationslagern. Alle Mädchen mussten sich vollständig entkleidet vor den Offizieren aufstellen und dann wurden sie gemustert. Man kann sich heute nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie sie sich dabei gefühlt haben.
Eine Handbewegung nach links bedeutete den sicheren Tod, eine Handbewegung nach rechts weiter zu leben. Die Frage ist nur, zu welchem Preis. Die Art von Leben, die den Mädchen bevorstand, kann man meiner Meinung nach nicht als lebenswert bezeichnen. Die Mädchen mussten in der Kälte mit abrasierten Haaren und nur mit einem dünnen Kleid bekleidet bis spät in die Nacht hinein arbeiten. Nahrung bekamen sie nur in minimalen Mengen und ein kleiner Schlafplatz musste für 10 Personen reichen. Ich finde, es ist etwas anderes, über solche Geschehnisse im Geschichtsunterricht zu hören oder diese in der Zeitung zu lesen. Diesen Bericht hat ein junges Mädchen verfasst, jünger als ich und sie ist dabei brutal ehrlich gewesen. Nichts wurde beschönigt oder verschwiegen. Erst durch das Lesen der Zeitung wurde mir so richtig bewusst, dass die Geschehnisse wirklich so geschehen sind, wie man es schon oft gehört hat. Erst jetzt fühlt es sich so richtig real an und das ist es, was mich am meisten geschockt hat. Ein Ignorieren oder Verdrängen der Wahrheit war nicht möglich. Mich hat es schockiert, wie Menschen sich für Gott hielten und einfach so über Leben und Tod entscheiden konnten.
Der Tod und die Not sind in den Zeitungen allgegenwärtig, er zog sich wie ein roter Faden hindurch. Überall las ich von Todesanzeigen, viele Kinder waren dabei. Familien wurden auseinander gerissen, immer wieder las ich von Männern die ihre Frauen suchten oder Frauen die verzweifelt auf die Rückkehr ihrer Männer warteten. Städte wurden zerbombt, Menschen suchten deshalb nach Wohnungen. Ich war auch überrascht, dass in den Zeitungen ehrlich über die Ereignisse der damaligen Zeit geschrieben wurde, ich hätte mit viel mehr Beschönigungen und Ausreden gerechnet. Die damalige Zeit war ganz anders als die heutige. Es herrschte eine extreme Lebensmittelknappheit. Lebensmittel wurden sogar gestohlen und versteckt, während andere Menschen hungern mussten. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Lebensmittel gibt es heute, zumindest bei uns in Deutschland, in Hülle und Fülle. Wir laden unsere Teller am Buffet voll, obwohl wir wissen, dass wir die Hälfte davon nicht essen werden. Jeder Besitz, jeder Gegenstand und jedes Kleidungsstück war früher wertvoll und heute werden Dinge achtlos bei Seite gelegt. Was sind wir nur für eine Wegwerfgesellschaft geworden? Ich finde es auch heute, wo es alles zu kaufen gibt, noch wichtig seine Besitztümer zu schätzen und Kaputtes nicht wegzuschmeißen oder zu ersetzen, sondern versuchen zu reparieren. Das gilt auch für Beziehungen. Früher hielten Beziehungen oft ein Leben lang, weil man sich nicht gleich wegen jedem Problem trennte. Heute ist die Zeit der „ Generation beziehungsunfähig“. Partner werden oft gewechselt wie Unterwäsche. Allerdings gaben es früher auch viele Zweckehen, wie ich den Zeitungen entnehmen kann. Das fand ich sehr traurig. Ich las eine Geschichte über einen jungen Mann, der seine große Liebe nicht heiraten durfte, sondern die Nachbarstochter zur Frau nehmen musste. Das fand ich sehr aufwühlend. Man sollte doch aus Liebe heiraten. Auch Wohnungen waren zur damaligen Zeit etwas Besonderes und es war gerade in der Zeit der Zerbombung schwer eine zu finden.
Heute gibt es dabei keine Probleme mehr. Vergnügungen um 1945 waren Theatervorstellungen oder Bälle. Die Aufführungen gingen dabei schon am frühen Abend los. Heutzutage gibt es überall Veranstaltungen und viele fangen vor 24 Uhr noch nicht einmal an. Ansonsten war die Zeit aber eine sehr düstere Zeit und die Menschen lebten in ständiger Sorge- Sorge um ihre Angehörigen, Sorge um ihre Existenz, ja sogar in Sorge erschossen zu werden, weil sie etwas Falsches gesagt hatten. Wie schnell das gehen konnte, entnahm ich aus den Zeitungen. Heutzutage herrscht zumindest ansatzweise so etwas wie Meinungsfreiheit und wir müssen uns auch nicht ständig fürchten, dass gleich ein Krieg ausbricht. Natürlich können wir uns dennoch nie sicher sein, bei den Terroranschlägen, die vorkommen, aber vergleichbar mit damals ist das trotzdem nicht. Der Besuch im Stadtarchiv regte mich zum Nachdenken an. Viele Verhaltensweisen der Bewohner erscheinen auf einmal viel logischer. Manche horten z.B. Nahrung in ihren Zimmern. Die Generation ist es aus Kriegszeiten so gewöhnt. Auch haben sie minimalistische Ansprüche, geben sich schon mit Kleinigkeiten zufrieden. Gegessen wird oft das, was auf den Tisch kommt und Kleidung nicht täglich gewechselt. Die Menschen kennen es eben nicht anders. Auch ein Wannenbad ist für viele etwas Besonderes. Ich habe eine neue Sichtweise auf die Menschen, die mir anvertraut sind, entwickelt.
Ich kann auf einmal vieles nachvollziehen, was mir bisher noch gar nicht bewusst war. Ich werde in Zukunft eventuelle Ängste älterer Bewohner, dass ein erneuter Krieg ausbricht, besser verstehen können und besser auf sie eingehen können, jetzt wo ich viele Hintergründe kenne. Ich werde dadurch auch noch einfühlsamer und verständnisvoller agieren können und meine Empathie weiter reifen lassen.
Außerdem bin ich jetzt schon neugierig auf die alten Geschichten, die ich meinen Bewohnern entlocken kann.
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